Beide Seiten

Diesem Text geht eine kleine Twitter-Diskussion voraus, die zum Verständnis hilfreich ist:

Am Rande: Ich wundere mich über die Beliebtheit dieses Cartoons, der mir mit den unterschiedlichsten Texten immer wieder auf Twitter begegnet. Eine Person antwortet auf ein Sachargument mit körperlicher Gewalt. Welche Diskussionskultur möchte man durch die Verwendung dieses Cartoons befördern? (Zudem scheint mir die Person mit der Maske ein Mann und die geschlagene Person eine Frau zu sein (ich kann daneben liegen), was es nicht besser macht. Nun ja, immerhin kann man dem Schläger kein Mansplaining vorwerfen, denn er erklärt ja nichts…)

Kommen wir zum eigentlichen Thema: Welche beiden Seiten sind denn zu betrachten bei einem völkerrechtswidrigen Überfall? Relativ einfach: Die des Angreifers und die des Verteidigers.

Betrachten wir als Beispiel mal den zweiten Irak-Krieg. Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg mit primär den USA an Agressor und dem Irak als Opfer. Argumente der USA (kurz gefasst): Saddam sei ein übler Diktator (dem kann man zustimmen, wenngleich das für die völkerrechtliche Bewertung unerheblich ist) und er habe Massenvernichtungswaffen. Argumente von Saddam Hussein: Er habe keine.

Das mit den Massenvernichtungswaffen war eine Lüge, das wurde inzwischen eingeräumt. Wobei es völkerrechtlich unerheblich ist. Also schon die Frage, ob der Irak Massenvernichtungswaffen hat. Die USA haben auch Massenvernichtungswaffen. Das gibt niemand das Recht, dort einzumarschieren.

Jetzt bleibt das zwar ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, aber auch da gibt es Grautöne. Eine Demokratie, die in ein anderes Land einfällt, um einen üblen Diktator zu beseitigen, finde ich jetzt etwas weniger schlimm als einen üblen Diktator, der in ein anderes Land einfällt, um eine Demokratie zu beseitigen.

Wir könnten das jetzt auch noch mal am Beispiel des damaligen Jugoslawien durchdeklinieren. Da war Deutschland am Bruch des Völkerrechts beteiligt. Das sollte man sich mindestens mal in Erinnerung rufen, bevor man als Deutscher mit dem Finger auf andere zeigt. Aber auch da kann man überlegen, ob Milošević der große Menschenfreund gewesen ist (eher nicht), und was dran ist, dass die NATO dort ein zweites Ausschwitz verhindern musste (wohl nichts).

In der aktuellen Situation interessieren selbstverständlich weniger Betrachtungen zu historischen Ereignissen als die Betrachtung der aktuellen: Wir haben hier einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt. Argumente Russlands (kurz gefasst): Wir betreiben da Entnazifizierung (das scheint mir ziemlich absurd), und der Westen habe damals versprochen, die NATO werde „not a single inch“ in Richtung Osten ausgedehnt. Das allerdings darf man jetzt differenzierter betrachten.

Es scheint tatsächlich so gewesen sein, dass der damalige US-Außenminister Baker diese Zusage gemacht hat. Zu einem völkerrechtlich bindenden Vertrag wurde das nicht. Aber ich kann es verstehen, wenn sich da Russland über den Tisch gezogen fühlt. Das gibt selbstverständlich nicht das Recht zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Schon gar nicht gegen die Ukraine, denn die haben diese Zusage ja nicht gegeben. (Ein klein wenig anders müsste man das sehen, würde Russland jetzt behaupten, sie seien damals getäuscht worden, damit sei der 2+4-Vertrag hinfällig, und jetzt wieder in der frühere DDR einmarschieren. Und wenn ich mir die Wahlergebnisse dort ansehe, wäre dann auch das Argument der Entnazifizierung nicht mehr so ganz absurd.)

Auch sonst hat „der Westen“ (wenn ich das mal so pauschal-vereinfachend formulieren darf) Russland nach 89 nicht fair behandelt. Um nicht zu sagen wiederholt gedemütigt. Gerade wir Deutschen sollten inzwischen verstanden haben, wozu das führen kann. Das kann und soll selbstverständlich nichts entschuldigen.

Aber es ist der Grund, warum ich gerade hier anmahne, die Sache differenzierter zu betrachten: Ich möchte nicht, dass man hier eine Mitschuld ignoriert. Keine der Ukraine. Eine des Westens.

3 Gedanken zu „Beide Seiten“

  1. Zwei Dinge die helfen können, den Ukraine Konflikt zu verstehen.
    Einmal die Erklärung auf der Wikipedia und die mahnenden Worte dreier ehemaliger Bundeskanzler:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Assoziierungsabkommen_zwischen_der_Europ%C3%A4ischen_Union_und_der_Ukraine#Politische_Bewertungen_und_Kritik

    und das Buch von Zbigniew Brzeziński
    https://de.wikipedia.org/wiki/Zbigniew_Brzezi%C5%84ski

    die einzige Weltmacht
    https://de.wikipedia.org/wiki/Die_einzige_Weltmacht:_Amerikas_Strategie_der_Vorherrschaft

    in diesem Buch (von 1997) wird die Ukraine als geostrategischer Dreh- und Angelpunkt beschrieben.

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