Die ist eine Antwort auf einen Tweet von @bendlerblogger, für den ich ein paar Zeichen mehr brauche: „Was mich wirklich stört, ist, dass diejenigen, die Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen – was eine völlig legitime Überzeugung ist –, nie dazu bereit sind, die Konsequenzen eines solchen Szenarios konkret zu beschreiben.“
Vorab: Ich bin nicht pauschal gegen jegliche Waffenlieferungen, mit z.B. Flugabwehr habe ich gar keine Probleme. Wenn es aber um Großkatzen geht, dann nur mit eine realistischen Perspektive, dass diese ziemlich zeitnah zu einer Beendigung der Kampfhandlungen führt. Ende der Vorbemerkung.
Zunächst einmal: Ein Ende der Waffenlieferungen kann in völlig unterschiedlichen Szenarien erfolgen, auch in solchen, für welche es in Bayern den schönen Begriff „hinterfotzig“ gibt. Also z.B. die Regierung der Ukraine erfährt von einem solchen Beschluss aus der Presse, hat somit keinen Wissensvorsprung und kann diesen für ein besseres Verhandlungsergebnis nutzen. Solche Szenarien möchte ich mal ausschließen.
Das Szenario lautet also: Die Ukraine bekommt gesagt, dass mit den Waffenlieferungen nun Schluss ist, und dass sie bezüglich Verhandlungen alle Freiheiten haben. Die haben also noch das, was in den Beständen ist, und können damit ein paar Tage bis wenige Wochen die Kämpfe fortführen. Es wäre jedoch unklug, „bis zur letzten Patrone“ zu kämpfen, sondern man sollte zu einer Verhandlungslösung kommen, bevor Moskau mitbekommt, dass es demnächst bis zur Grenze der NATO laufen kann, ohne nennenswert Widerstand befürchten zu müssen.
Schritt Nummer eins wäre eine Ablösung des Präsidenten, weil damit ein Wechsel der bisherigen Politik glaubhaft gemacht werden kann, und die bisherigen Äußerungen von Selenskyj einer schnellen Verhandlungslösung nicht im Wege stehen. (Also in etwa die Motivation, warum Deutschland damals Wilhelm II selbst abgeräumt hat.)
Der neue Präsident fragt freundlich in Moskau an, ob man auf den Vorschlag von Ende März zurückkommen könne. Damals hatte man ja schon einen Kompromiss ausgehandelt (Dosbass wird autonom, Krim als russisch anerkannt, die Ukraine geht nicht in die NATO, darf aber in die EU, keine atomare Bewaffnung der Ukraine); dann aber flog Boris Johnson nach Kiew, und danach zog die Ukraine den Vorschlag zurück.
Inzwischen sind zig Tausende weitere Menschen gestorben, auf beiden Seiten, und die russländische Föderation hat vier neue Teilrepubliken aufgenommen. Darauf wird Moskau freundlich, aber bestimmt hinweisen. Da wird irgend ein Satz mit „Realität am Boden anerkennen“ fallen. Zur Realität am Boden gehört aber auch, dass die Russen nicht mehr westlich des Dnepr stehen, und auch sonst nicht alle Gebiete der neuen Teilrepubliken unter russischer Kontrolle stehen. Man wird sich mehr oder weniger auf den aktuellen Frontverlauf einigen, das hängt vom jeweiligen Verhandlungsgeschick ab. (Und die Ukrainische Seite weiß, dass ihr die Zeit davon läuft – keine komfortable Situation…)
Auf einer solchen Basis einen Waffenstillstand zu schließen, dürfte nicht die Herausforderung sein. Die Frage ist, wie bekommt man es hin, dass die Sache zumindest ein paar Jahrzehnte hält. Denkbar wäre, 10 km links und rechts der Frontlinie (an einigen Stellen wird man das leicht anders handhaben müssen) eine demilitarisierte Zone einzurichten, in die UN Friedenstruppen kommen. Und erst mal dort bleiben.
Was sind die wesentlichen Vor- und Nachteile dieses Szenarios?
- Grob über den Daumen dürften wir 100.000 tote Soldaten auf je beiden Seiten und 50.000 tote ukrainische Zivilisten haben. An präzise Zahlen komme ich nicht ran, aber von der Größenordnung dürfte das stimmen. Zusätzliche Verwundete, Traumatisierte, etc. Und unter den Opfern dürfte kein Einziger sein, der den Krieg hätte verhindern können, wie auch immer man die Schuldfrage bewertet. Wenn der Krieg fortgeführt wird, dann werden das mehr. Das kann sich verdoppeln, verdreifachen, vervierfachen – und da ist ein atomarer Schlagabtausch jetzt noch gar nicht in Erwägung gezogen. Die zusätzlichen Opfer fallen dann nicht an. (Und: Dadurch, dass Russland die Luftkriegsführung inzwischen „amerikanisiert“ hat, dürfte die Zahl der toten Zivilisten überproportional ansteigen.)
- Die betroffenen Gebiete leisten derzeit nicht den Beitrag zur Ernährung der Weltbevölkerung, den sie leisten könnten. Ich gehe davon aus, dass die Zahl indirekter Opfer (also Verhungernde) die Zahl der direkten Opfer übersteigt. Auch diese indirekten Opfer werden dann geringer ausfallen.
- Die Fläche der Ukraine wird geringer. Das wird insbesondere den ukrainischen Nationalisten überhaupt nicht passen.
- Die Fläche Russlands wird größer. Das wird insbesondere den US-amerikanischen Geo-Politikern überhaupt nicht passen.
- Es werden weniger Waffen und Munition verbraucht. Das wird der Rüstungsindustrie nicht gefallen.
- Es müssen weniger Waffen und Munition bezahlt letztlich von irgendwem bezahlt werden. Das wird den europäischen Steuerzahler freuen.
- Was nicht kaputt gebombt wird, muss auch nicht wieder aufgebaut werden. Das wird den europäischen Steuerzahler freuen.
- Ein weiterer Schritt von der unipolaren zur multipolaren Weltordnung, nicht nur die USA / die NATO können ungestraft das Völkerrecht ignorieren, Russland kann das auch. Womöglich sehen sich dann auch weitere Staaten dazu in der Lage. Das wird insbesondere den US-amerikanischen Geo-Politikern überhaupt nicht passen.
Wie wahrscheinlich ist dieses Szenario?
Wenn man diese Vor- und Nachteile den maßgeblichen Akteuren zurechnet, dann lässt sich leicht sehen, wer ein Interesse daran haben kann und wer nicht. Von daher bin ich mir sicher, dass die USA der Ukraine weiter Waffen leihen wird, und der europäische Steuerzahler sie irgendwann bezahlen wird (was kaputt ist, kann ja nicht zurückgegeben werden), dass die Zahl der direkten und indirekten Opfer sich mindestens noch verdoppelt. Ich habe dazu eine Meinung, weiß aber auch, dass die maßgeblichen Akteure noch nicht mal bereit sind, sie zur Kenntnis zu nehmen. Aber mir vorhalten zu lassen, dass ich nicht bereit bin, „die Konsequenzen eines solchen Szenarios konkret zu beschreiben“, das will ich dann doch nicht.