Licht am Ende des Tunnels?

Die Rand-Corporation hat ein Paper mit dem Titel „Avoiding a long war“ (https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html) veröffentlicht.

Die Rand-Corporation – wer sie noch nicht kennt – ist so zu sagen der „Haus- und Hof-Think-Tank“ des US-Außenministeriums. Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg könnten z.B. „Extending Russia – Competing from Advantageous Ground“ und „Overextending and Unbalancing Russia“ interessant sein, mit denen der Krieg in der Ukraine gedanklich vorbereitet wurde.

Während man in „Overextending and Unbalancing Russia“ noch die Ukraine als beste Möglichkeit gesehen hat, Russland zu schwächen, macht man sich nun darüber Gedanken, dass ein langer Krieg nicht im Interesse der Vereinigten Staaten liegt.

Zunächst werden zwei überragende Interessen („paramount priority“) der Vereinigten Staaten formuliert: Einen Nuklearkrieg zu vermeiden, und zu vermeiden, dass die NATO in diesen Krieg militärisch verwickelt wird. Das kommt jetzt nicht unerwartet, damit brauchen wir uns nicht lange aufhalten.

Dann wird untersucht, wie wichtig es für die Vereinigten Staaten ist, dass die Ukraine eine größere Kontrolle über ihr Territorium ausübt. Hier (Table 1) finden sich keine Einträge in der Zeile „Highly significant benefits“ und unter „Moderately significant benefits“ nur, dass dann weniger Ukrainer unter russischer Kontrolle leben.

Das Paper arbeitet dann heraus, dass die Schwere der Beeinträchtigung des Völkerrechts, konkret die Unverletzlichkeit der Grenzen, nicht davon abhängt, wie viel Territorium davon betroffen ist. Es mache also quasi keinen Unterschied, ob Russland nur die Krim besetzt halte, nur die bis zum 23. Februar 2022 besetzten Gebiete, oder alle derzeit besetzten Gebiete. („Furthermore, the weakening of the norm is less a function of the quantity of land illegally seized than it is a consequence of the international community’s acceptance of the territorial change.“)

Tabelle 2 befasst sich mit den „potentiellen Kosten“ einer größeren Kontrolle der Ukraine über ihr Territorium. Hier finden sich in der Zeile „Highly significant costs“ gleich zwei Einträge: Das Risiko eines langen Krieges und das Risiko, dass die NATO militärisch in den Konlikt hineingezogen wird oder dass er nuklear eskaliert. Genau gezählt wären das sogar drei Punkte, denen kein einziger in der Zeile „Highly significant benefits“ und nur einer in der Zeile „Moderately significant benefits“ gegenübersteht.

Ich schließe daraus, dass es Linie der USA werden könnte, die Grenzveränderungen nicht anzuerkennen, aber dass sie die Ukraine eher ermutigen werden, auch größere territoriale Zugeständnisse zu machen, wenn es einer raschen Beendigung des Krieges dient.

In den Tabellen 3 und 4 werden Nutzen und Kosten eines langen Krieges gegenübergestellt. Auch hier gibt es keine „Highly significant benefits“, und als „Moderately significant benefits“ wird nur die weitere Schwächung Russlands erwähnt. Nachdem aus Sicht der USA das der eigentliche Sinn des Krieges ist (siehe die Vorkriegs-Paper von Rand), verwundert es doch, dass dies jetzt nur als „Moderately significant benefits“ eingestuft wird. Möglicherweise folgt das der Einsicht, dass die wirtschaftlichen Sanktionen jetzt primär Europa geschadet haben, und die Einnahmen Russlands und der Kurs des Rubels sogar gestiegen sind. Möglicherweise weiß man dort auch, dass die Verluste Russlands auf dem Schlachtfeld längst nicht so hoch sind, wie sie von der Ukraine beziffert werden.

Dem stehen in Tabelle 4 jetzt eine Zeile in „Highly significant costs“ (konkret: die Eskalationsgefahr) und gleich 6 „Moderately significant costs“ gegenüber. Die Ukraine brauche länger finanzielle und militärische Unterstützung, das Leiden ukrainischer Zivilisten, die gestiegenen Preise für Energie und Nahrungsmittel, das weltweite Wirtschaftswachstum, dass die USA sich weniger um andere Interessen kümmern können, und dass die derzeit schlechten Beziehungen zu Russland auch den USA schaden. Man sagt also klar, dass sich die Beziehungen zu Russland wieder verbessern müssen, weil man für andere Prioritäten der USA Russland braucht. Das halte ich gleich für doppelt bemerkenswert: Einerseits, dass man das erkannt hat, mehr noch, dass man dies auch noch in einem Paper, das die ganze Welt lesen kann, so klar benennt.

Letztliche folgt dies aber einer Tradition der USA, mit einstigen „Todfeinden“ ganz flott wieder vernünftige Beziehungen anzufangen, wenn es denn nützlich erscheint. Wir Deutschen haben davon ja auch schon mal profitiert.

Was das Paper als „less significant“ einstuft, habe ich an anderer Stelle nicht weiter erwähnt, an dieser Stelle wird es jedoch zu interessant. Als „Less significant costs“ wird erwähnt, dass die Gefahr besteht, dass Russland weiteres Territorium in der Ukraine erobert. Wie viel Gebiet die Ukraine verliert, scheint den US-Geopolitikern letztlich wohl ziemlich egal. Immerhin wird Territorium überhaupt noch erwähnt, tote ukrainische Soldaten sucht man in Tabelle 4 vergebens (lediglich die Zivilisten werden erwähnt). Diese Nichterwähnung ist dann auch schon ein bemerkenswertes Statement.

Und dann wird unter den „Less significant costs“ erwähnt, dass die Abhängigkeit Russlands von China zunehmen könnte. Jetzt kann ich mir viel vorstellen, aber nicht, dass das Wohlergehen der russländischen Föderation der Rand-Corporation ein erwähnenswertes Anliegen ist. Da dürfte eher die Sorge dahinter stehen, dass diese „Abhängigkeit“ oder auch jede Form von freiwilliger Zusammenarbeit China stärkt. Nun ja, dass dies so kommen wird, war jetzt durchaus naheliegend, und dies nicht hinreichend bedacht zu haben, als man einen Ukraine-Konflikt zur Schwächung Russlands vorgeschlagen hat, darf sich die Rand-Corporation durchaus ankreiden lassen.

Am Rande: „The increase in energy prices alone is likely to lead to nearly 150,000 excess deaths (4.8 percent more than average) in Europe in the winter of 2022–2023.2“ (Seite 10 rechts unten, wenn jemand das erst glauben möchte, wenn er das selbst gelesen hat). Man geht also von knapp 150.000 toten Europäern alleine aufgrund gestiegener Energiepreis alleine im Winter 2022/23 aus. Das ist ein Mehrfaches der Anzahl der toten ukrainischen Zivilisten des kompletten ersten Kriegsjahres und dürfte auch über der Zahl der russischen Gefallenen im kompletten ersten Kriegsjahr liegen. So weit zu dem Thema „wir schwächen Russland“.

Wie viele Toten die gestiegenen Nahrungsmittelpreise in anderen Ländern, insbesondere in Afrika verursachen könnten, wird nicht weiter untersucht oder erwähnt. Das dürfte die erwähnten Opfer gestiegener Energiepreise leicht um ein Vielfaches übersteigen. Aber nun ja, die Afrikaner sind ja nicht in der NATO, und wenn 150.000 tote Europäer auch nur lapidar in einem Satz abgehandelt werden…

Alles in allem legt das Paper dar, warum die USA an einem schnellen Ende des Krieges Interesse haben muss. Das steht für alle sichtbar im Internet. Das kann auch die ukrainische Regierung lesen. (Meine Vermutung: Sie wird „not amused“ sein ob so mancher Formulierung.) Das kann auch die russische Regierung lesen. Die weiß nun, dass ihre Verhandlungsposition gar nicht so schlecht ist, weil „der Westen“ die Ukraine wohl nicht mehr allzu lange unterstützen wird.

Von daher will ich nicht ausschließen, dass es in den nächsten Monaten zu einem Waffenstillstand kommt.

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