Gut gemeint ist nicht immer auch gleich gut gemacht. Zum BPT23.2 haben wir einen Antrag „Verhaltenskodex / Code of Conduct / Netiquette“ (https://wiki.piratenpartei.de/Antrag:Bundesparteitag_2023.2/Antragsportal/S%C3%84A001), der mutmaßlich gut gemeint ist. Und es finden sich durchaus auch gute Ansätze daran. In seiner derzeitigen Fassung würde ich ihn jedoch nicht zur Annahme empfehlen. Das möchte ich begründen.
- Respektvoller Umgang
Gegen respektvollen Umgang ist selbstverständlich nichts einzuwenden, in diesem Abschnitt stören mich eher Formulierungen. „Jedes Mitglied verpflichtet sich…“ – sich verpflichten ist eine aktive Handlung (müsste vielleicht irgendwo hingehen und etwas unterschreiben), ich würde – und so handhabt es auch der Rest der Satzung – lieber formulieren „ist verpflichtet“. Ohnehin wird auch den Rest der Satzung wenig Rücksicht genommen. Mal sind es Mitglieder, mal Mitglieder·innen, mal Pirat·in…
Dann haben wir in 1.2 die „anderen Formen von unangebrachten Verhalten“, die inakzeptabel sind und nicht toleriert werden. Was unter die „anderen Formen“ fällt, werden dann die Schiedsgerichte durch Auslegung bestimmen müssen, bis in ein paar Jahren dürften wir dann halbwegs Klarheit haben. Also zumindest dann, wenn die parteiinterne Rechtsprechung hier einigermaßen konsistent ausfällt. Ebenso ist unklar, was mit „werden nicht toleriert“ gemeint ist. Sind die Piraten aufgefordert, einem solchen Verhalten zu widersprechen? Sind die Vorstände aufgefordert, Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen? Mit ist das nicht klar. Wenn es den Antragstellern klar sein sollte – warum steht es nicht im Antrag?
- Zusammenarbeit und Beitrag
Da haben wir in 2.1 die unbedingte Förderungswürdigkeit von ein paar Sachen. „Unbedingt“ heißt ohne Bedingungen, eine entsprechende Bedingung könnte sein, wenn Geld dazu da ist. Mit welcher Begründung könnte ein Vorstand einen entsprechenden Antrag ablehnen, wenn er eines der gelisteten Zielen zum Inhalt hat?
Laut 2.3 gilt der „absoluter Gleichheitsgrundsatz“. Auf was er sich erstreckt, wird nicht weiter ausgeführt, aus dem Zusammenhang im Satz könnte er sich auf die Würdigung von Arbeit erstrecken. Könnte also heißen, die Würdigung der „Arbeit“ von Piraten muss absolut gleich sein, unabhängig von Qualität und Quantität der geleisteten Arbeit. Auf jeden Fall hat „eine Herabwürdigung der Arbeit anderer Piraten·innen zu unterbleiben“. Wo verläuft die Grenze zwischen noch erlaubter Kritik und Herabwürdigung? Ist Kritik überhaupt noch erlaubt? Fängt jetzt sicherheitshalber jeder Contra-Beitrag auf einem BPT mit den Worten an, dass es man ja prima findet, dass die Antragsteller diesen Antrag eingebracht haben?
Und auf der anderen Seite: Warum hat nur die Herabwürdigung der Arbeit anderer Piraten zu unterbleiben? Sollte nicht vielmehr die Herabwürdigung der Person anderer Piraten unterbleiben?
- Offene Kommunikation
„3.1. Wir kommunizieren Welt- und Diversifikations-offen.“ Man kann ja mal das Wort „Diversifikations-offen“ googeln. Es gibt exakt eine Fundstelle, die Satzung von SH, von der dieser Text augenscheinlich kopiert wurde (den Antragstext hat Google augenscheinlich noch nicht indexiert). Juristen kennen das ja schon, dass sie unbestimmte Rechtsbegriffe durch Auslegung präzisieren müssen. Hier haben wir jedoch eine völlig neue Wortschöpfung. Erbarmen mit die Schiedsgerichten sieht anders aus.
Und weltoffen, da spuckt mir jetzt Google „Umgangssprachlich bezeichnet der Begriff eine Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Kulturen.“ aus. Andere Kulturen haben teilweise Werte, die mit den Grundsätzen der Piratenpartei kollidieren, seien es jetzt Frauenrechte, sei es – gerade leider wieder aktuell – die Einstellung der islamischen Welt zum Judentum und zum Staat Israel. „Unterschiedliche Meinungen sind willkommen und bereichern unseren Dialog.“ Nun ja, das kann noch spaßig werden.
- Verantwortungsbewusstes Verhalten
„4.1. Jedes Mitglied trägt die Verantwortung dafür, die Partei in der Öffentlichkeit angemessen und mit positivem Bild zu vertreten.“ Klingt erst mal super, bis man näher darüber nachdenkt. Verpflichtet nämlich alle dazu, alle Probleme unter der Decke zu halten, weil sie ja das positive Bild beeinträchtigen könnten. Das zwingt uns letztlich dazu, deutlich intransparenter zu werden.
4.2 zwingt alle Konflikte auf parteiinterne Kanäle, und das halte ich sogar für sinnvoll.
„4.3. Der Missbrauch der Mitgliedschaft oder von technischen Ressourcen der Partei wird geahndet.“ Wann wird eine Mitgliedschaft „missbraucht“? Und wie wird das „geahndet“? Und von wem?
- Konflikte und deren Beilegung
Zunächst zu „und werden innerparteilich geahndet.“: Zumindest physische Angriffe auf einen anderen Menschen sind eine Straftat und damit ein Fall für den Staatsanwalt.
Die Definition eines solchen Verhaltens als „parteischädigend“ mag sinnvoll sein (wobei das die Schiedsgerichte ohnehin bereits so gesehen haben), weil das parteischädigende Verhalten die Voraussetzung für eine Ordnungsmaßnahme ist. „Gefährdung des Innerparteilichen Friedens“ ist dagegen kein Terminus, für den die Satzung irgendeine Rechtsfolge kennt.
- Ordnungsmaßnahmen
Ab hier wird es jetzt unübersichtlich, weil laut Antragsformel §6 der Satzung ergänzt werden soll, dort gibt es bereits Regelungen, die weite Teile von dem regeln, was hier in Abschnitt 6 erneut und teilweise abweichend geregelt wird. Wir würden durch Annahme dieses Antrags widersprüchliche Regelungen in die Satzung bekommen.
6.2 nimmt den Landesverbänden die Möglichkeit zu Ordnungsmaßnahmen, diese müssten immer über den Bundesvorstand gehen – der möglicherweise die Sachverhalte weniger gut einschätzen kann als der Landesvorstand, der häufig näher dran ist.
„6.4 Die Einhaltung dieses Codes of Conducts ist für alle Mitglieder·innen verpflichtend. Bei Verstößen behalten wir uns das Recht vor, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um Schaden von der Partei fernzuhalten.“ Da stellen sich gleich einige Fragen:
- Wer ist „wir“ in diesem Zusammenhang? Die Antragsteller?
- „Behalten das Recht vor“ oder „sind zu ahnden“? Wie weit geht der Ermessensspielraum? Gibt es da so etwas wie den „absoluten Gleichheitsgrundsatz“, von dem an anderer Stelle die Rede ist?
- „um Schaden von der Partei fernzuhalten“ – sind Ordnungsmaßnahmen dann nur noch zulässig, wenn sie geeignet sind, „Schaden fernzuhalten“?
„Ausschluss: Bei fortgesetzten oder besonders schweren Verstößen, die gleichzeitig von einem behördlichen Strafantrag begleitet werden oder bei Unvereinbarkeitsverhalten (z.B. X032 wegen Bundessatzung §2 (3)) behalten wir uns das Recht vor, das Mitglied dauerhaft aus der Partei auszuschließen.“ Auch hier zunächst wieder die Frage, wer „wir“ ist. Parteiausschlüsse gehen nur über die Schiedsgerichte, da lässt das PartG keinen Gestaltungsspielraum.
Was wir hier nicht mehr haben ist Amtsenthebung und Amtsfähigkeitsaberkennung. Warum auch immer.
Und dann brauchen wir bei Parteiausschlüssen die „Begleitung“ von einem „behördlichen Strafantrag“ (alternativ das Unvereinbarkeitsverhalten). Ich habe jetzt in meinen Jahren im BSG so manches Parteiausschlussverfahren gesehen – kein einziges hätte diese Hürde genommen.
„Diese Sanktionen finden erst nach erfolglosen Mediationsversuchen auf kollegialer Ebene und/oder mit den Vertrauenspiraten·innen sowie nach sorgfältiger Prüfung jedes Einzelfalls Anwendung.“ Wann ist ein Mediationsversuch erfolglos? Nehmen wir an, wir haben einen „physichen Angriff“ auf ein anderes Mitglied. Jetzt brauchen wir erst einen Mediationsversuch (zwischen welchen Beteiligten?) und er muss scheitern. Kommt man mit einem ich sehe es ja ein, dass das blöd war jetzt aus jedem Ordnungsmaßnahmenverfahren heraus? Braucht es zumindest eine Entschuldigung? Was ist, wenn die andere Seite nicht will?
„Einzelne Sanktionsschritte können durch die Gerichte übersprungen werden.“ Interessant. Schiedsgerichte spielen ja nur beim Widerspruch gegen Ordnungsmaßnahmen eine Rolle. Da werden sie viel Spielraum beim Überspringen haben…
„Wir sind bestrebt, faire und angemessene Entscheidungen zu treffen, “ Auch hier wieder: Wer ist „wir“?
„Die Sanktionen werden satzungsgemäß von einem Schiedsgericht verhängt.“ Pardon: Nach 6.3 in diesem Abschnitt sind die Schiedsgerichte für die Widersprüche zuständig. Nach dem restlichen §6 der Satzung sind sie für Parteiausschlüsse und Widersprüche zuständig. Nach diesem Satz sind sie für alle Ordnungsmaßnahmen zuständig. Widersprüchliche Satzungsregelungen sind immer ganz großer Spaß, nicht nur für die Schiedsgerichte…
Fazit
Gut gemeint und so. Aber das ist so weit von einer brauchbaren Satzungsregelung entfernt, dass man das auch mit § 12(2) nicht gerettet bekommt.
Ich empfehle den Antragstellern, sofern sie an diesem Projekt festhalten wollen, die Expertise von Piraten mit langjähriger Erfahrung in den Schiedsgerichten zu nutzen. Und dann erst mal Alles auf Anfang.
das ding is Ne zensur Rechtfertigung, Leute; WAS wollt ihr eigentlich nochmal anders machen?
Nun ja, gut gemeint bedeutet eigentlich es ist das Gegenteil von gut gemacht.
Hier erkennt man den Beweis, denn sollte dieser Antrag durch gehen kostete er:
Zeit, um ihn zu
1. erstellen
2. analysieren
3. revidieren
Anstatt also die Arbeit gut zu machen zerstört man Arbeitszeit, Nerven und natürlich sein Ansehen.
Dies zeigt auf, dass die Person die das schrieb, von tuuuuten und blaaaaasen keine Ahnung hat und lieber die Personen unterstützen sollte, die es können.
Oder zumindest aus dem Weg gehen.
👍ich schließe mich Michael an!!
Wolfdietrich
Mit „wir“ meinen die Antragstellenden mit großer Wahrscheinlichkeit die eigenen, sicherlich hochobjektiven Genossen aus dem Kollektiv.
Und das es hier darum geht, Andersdenkende loszuwerden, ist sicher nur meine private Verschwörungstheorie.
Für die gute Sache heiligt der Zweck die Mittel, das wissen wir doch!
Hi Michael: passt!
Eine Ergänzung: mit der SÄ vom bpt 1/23 hat ein Vorstand die Möglichkeit, einzelne/alle Rechte aus einer Mitgliedschaft zeitweilig auszusetzen, damit auch eine breite Palette an OMs. (Und die Schiedsgerichte zur Minderung)
Sich für ein Parteiamt zu bewerben, ist Mitgliedsrecht; kann also durch eine OM ausgesetzt werden. Muss somit nicht ausdrücklich erwähnt werden.
‚Schlichtung‘ (=Mediation) ist ausdrücklich in der Satzung drin, also auch so im Antrag überflüssig.
Generell gibt es da nur eins zu sagen: Ein „Code of Conduct“ (Anm.: Warum nicht einfach deutsch „Verhaltenskodex“ schreiben?) gehört NIEMALS in eine Satzung. Es ist immer nur ein Beiwerk ohne Satzungsrang und reicht nicht einmal als Satzungsbeiordnung.
Und Ordnungsmaßnahmen mit einem Verhaltenskodex zu kombinieren, geht so oder so nicht. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. OM können auch aus anderen Gründen als dem Verstoß gegen den CoC ausgesprochen werden. Durch die Verknüpfung drängt sich aber der Eindruck auf, dass eine OM immer mit einem Verstoß gegen den Verhaltenskodex in Verbindung stehen muss.
Guter Kommentar, vielen Dank dafür.
Nur bei 4.2 bitte ich dich noch einmal zu überdenken, ob ein Zwang, Streits ausschließlich auf Parteimedien auszutragen, wirklich sinnvoll ist. Es gibt regelmäßige Beschwerden über Zensur im Forum, selbst bei gewählten Moderatoren hätte man das Problem des 51%-Angriffs, und wenn man sich über Zensur im Forum beklagen möchte, hat man als einzig legitimes Mittel dazu… das Forum? Das klingt absolut nicht sinnvoll.
Ganz abgesehen davon, dass man strafbare Handlungen anderer nicht anzeigen dürfte, da das einzig legitime Medium dazu das Forum ist, das leider noch keine Schnittstelle zur Staatsanwaltschaft hat. Nein, ein Zwang zur Kommunikation über bestimmte Kanäle ist weder sinnvoll noch vereinbar mit den Werten der Piraten.
Jeder LV, jeder KV, jede AG kann ein Forum einrichten, das dann ein parteiinterner Kanal wäre. Zudem gibt es Mailinglisten, Telegram-Gruppen, etc.
Die Sache mit dem Forum mag ein Ärgernis sein (ich schaue da zu selten rein, um das beurteilen zu können). Stellt einfach einen sonstigen Antrag, die Mods auf dem BPT wählen zu lassen. Ggf. mit qualifizierter Mehrheit.