Dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist, gehört zu den gern zitierten Binsenwahrheiten. Sehr viel seltener darf man leider beobachten, dass die einzig vernünftige Schlussfolgerung daraus gezogen wird: Keiner Seite und auch keinen Dritten zu glauben, sondern sich eine ganz erhebliche Skepsis gegenüber allen Informationen zu bewahren.
Wie das in der Praxis aussehen kann, möchte ich mal anhand des aktuellen „Bundeswehr-Abhörskandals“ durchdeklinieren.
Stand der Berichterstattung zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes, Kurzfassung: Ein paar Bundeswehr-Offiziere haben per webex-Telefonkonferenz ein paar Szenarien durchgespielt für den Fall, dass die politische Führung sich doch noch zur Lieferung des Taurus entschließt. Dieses Gespräch wurde von Russland abgehört, auf RT veröffentlicht und sorgt seit dem für umfängliche Diskussionen.
Stimmt die Berichterstattung? Kann sein, muss aber nicht. Gehen wir mal ein paar Aspekte durch.
Wie kommt Russland an dieses Gespräch?
Da gibt es ein paar Möglichkeiten:
- Sie haben das abgehört. So, wie sie es selbst sagen. Jetzt sollte man aber nicht davon ausgehen, dass etwas nur deswegen gesichert ist, weil die Russen es behaupten.
- Ein Mitschnitt des Gesprächs wurde ihnen zugespielt.
- Sie haben das selbst produziert, mit KI oder mit Personen, die den Text eingesprochen haben.
Weitere Varianten fallen mir nicht ein. Was nicht heißt, dass es keine gibt. Variante 3 halte ich für ziemlich unwahrscheinlich – das wäre wohl recht schnell dementiert worden. Unwahrscheinlich heißt aber nicht ausgeschlossen.
Sollten die dieses Gespräch bekommen?
Eine simple Ja-Nein-Frage, aber wieder mit Varianten. Zunächst die Abhör-Variante aus Frage 1: Das kann eine Sicherheitslücke von webwex sein (oder welches Tool da tatsächlich verwendet wurde), das kann ein schlampiger Umgang mit Zugangsdaten sein, das kann ein Spion sein, der Zugangsdaten abgreift. Vieles denkbar.
Oder ab, dass man – über welchen Weg auch immer – gezielt das mithören ermöglichte. Und dann die Informationen in das Gespräch einfließen lies, welche die Russen haben sollten. Dafür mag es die verschiedensten Gründe geben. Willkürlich mal einen ausgedacht: Nach diesem Gespräch kann man den Eindruck haben, dass man nach einer Entscheidung der politischen Führung noch mindestens drei Wochen Zeit hat, danach muss man mit Taurus-Beschuss rechnen. Wenn die Entscheidung in Wirklichkeit bereits getroffen ist und die Vorbereitungen bereits laufen, erhöht das den Überraschungs-Effekt. Immer unter der Voraussetzung, die Gegenseite glaubt das.
Es ist aber auch denkbar, dass ihnen dieses Gespräch gezielt zugeleitet worden ist. Auch dafür fallen mir wieder ein paar Gründe mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit ein (und ich bin mir sicher, dass mir längst nicht alle einfallen):
- Täuschung der Gegenseite, wie eben ausgeführt
- Täuschung der Gegenseite, aber deswegen, um sie mit der Option des Taurus beschäftigt zu halten
- Man möchte dieses Thema jetzt in der politischen Diskussion haben (mutmaßlich, um von einem anderen abzulenken)
- Man möchte Scholz wiederlegen von wegen deutsche Soldaten müssten in die Ukraine
- Man möchte einer der beteiligten Personen „an den Karren fahren“. Oder anderen, wie z.B. dem Verteidigungsminister, der ja augenscheinlich seinen Laden nicht im Griff hat, oder wie man da in der Politik auch immer argumentiert.
- Jemand mit Zugang zum Gespräch sieht die Eskalationsgefahr als zu hoch an und glaubt, sie mit diesem Schritt verringern zu können.
Warum dementiert das Verteidigungsministerium nicht?
Es wäre ein Leichtes für den Verteidigungsminister, vor die Presse zu treten und zu sagen „Ich habe die angeblichen Beteiligten gefragt, diese haben unisono dementiert, dass ein solches Gespräch stattgefunden hat. Wir vermuten, dass es mit KI erstellt wurde.“ Das haben sie bislang nicht getan (und ich rechne nicht damit, dass dies noch kommt).
Auch dafür kann es unterschiedliche Gründe geben, auch dafür fallen mir sicher nicht alle ein:
- Sie glauben, dass sie das nicht durchhalten können. (Hmmm… Die Beteiligten an diesem Gespräch unterliegen Befehl und Gehorsam, um vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss auftreten zu können, brauchen sie die Genehmigung der Behördenleitung…)
- Sie glauben zwar, dass sie es durchhalten können, halten aber das Risiko für eher hoch und den Schaden der Diskussion in der Öffentlichkeit für eher klein.
- Man (oder zumindest einer der Beteiligten) möchte diese Diskussion in der Öffentlichkeit haben, warum auch immer
- Man ist einfach sehr wahrheitsliebend. (In der Politik… in Zeiten des Krieges…aber völlig ausgeschlossen ist es ja nicht)
Warum hat Russland veröffentlicht?
Es ist eigentlich eher unüblich, dass Geheimdienste mitgehörte Gespräche veröffentlichen. Zudem haben sie dadurch eine ihnen bekannte Sicherheitslücke „verbrannt“. Möglicherweise.
- Das kann auch wieder eine Aktion aus dem Bereich „Tarnen und Täuschen“ sein: Wenn man etwas zugespielt bekommen hat, dann schützt man seine Quelle besser, wenn man von einer Abhöraktion spricht.
- Die Sicherheitslücke (so es eine war) wurde ohnehin geschlossen oder war erkennbar einmalig
- Der Nutzen der Veröffentlichung wurde als höher angesehen als der Wert der Sicherheitslücke. Möglicherweise hat man an nutzbaren Sicherheitslücken gerade ähnlich wenig Mangel wie an Artillerie-Munition.
Glauben die Russen, dass die Infos valide sind?
Auf den ersten Blick hat es den Anschein, dass die Russen an den Wahrheitsgehalt der Information glauben. Auch das kann wieder „Tarnen und Täuschen“ sein. Auch dann, wenn man glaubt, da gezielt mit Falschinformationen gefüttert worden zu sein, so kann man da brav mitspielen und den Eindruck erwecken, man habe das geschluckt.
Fazit
Es gibt der Möglichkeiten viele (und ganz sicher mehr, als ich hier aufgeführt habe). Sie sind unterschiedlich wahrscheinlich, aber Realität hält sich nicht strikt an die wahrscheinlichsten Möglichkeiten.
Was sollte man nun glauben? Auch da gibt es wieder mehrere Möglichkeiten:
- Was die Öffentlich-Rechtlichen berichten, schließlich zahlen wir ja dafür (so zu sagen eine moderne Kirchensteuer)
- Was immer man möchte. Schließlich haben wir (noch) die Glaubensfreiheit nach Art 4 GG.
- Nichts. Schließlich geht es um Krieg. Da wartet man bis zum Waffenstillstand, gibt dann den Historikern ein paar Jahrzehnte Zeit, und nähert sich dann der Thematik mit immer noch einer gehörigen Portion Skepsis.