Wenn man mit dem Finger auf jemand anderen zeigt, so sagt der Volksmund, so zeigen drei Finger auf einen selbst.
Daran sollte man sich stets erinnern, wenn man jetzt mit dem Finger auf Russland und Putin zeigt. Wofür es ja völlig einsichtige Gründe gibt. Der Angriff auf die Ukraine ist ganz klar ein Verstoß gegen das Völkerrecht (Gewaltverbot UN-Charta), nach den Maßstäben der Nürnberger Prozesse ganz klar ein Kriegsverbrechen. Ich will da nichts beschönigen.
Aber sind wir so ehrlich gegenüber uns selbst, unseren eigenen Anteil, unsere eigene Verantwortung einzugestehen?
Um es nur mal grob zu skizzieren: Im Zuge der deutschen Einigung gibt man Russland die Zusage (wenngleich es nicht zu einem völkerrechtlich bindenden Vertrag kommt), die NATO werde „not a single inch“ über das Gebiet der DDR hinaus nach Osten ausgedehnt. Ok, die Administration von Bush senior hält sich noch daran, ab Clinton wird die NATO dann Stück für Stück ausgedehnt. Russland? Damals nicht in der Position, das verhindern zu können.
Serbien. Traditionell ein mit Russland befreundeter Staat. Von der NATO bombardiert. Völkerrechtswidrig. Ein Kriegsverbrechen. Russland? Damals zu schwach, um eingreifen zu können. (Am Rande: Das, was jetzt Putin über „Entnazifizierung“ sagt (bullshit) [1], und das, was damals Joschka Fischer sagte („ich habe aber auch gelernt: nie wieder Ausschwitz“, auch Blösinn), könnte man gegeneinander austauschen, ohne dass es groß auffallen würde.)
Der Irak-Krieg. Auch mit einer Lüge begonnen. Auch völkerrechtswidrig. Auch ein Kriegsverbrechen. Nicht angegriffen, weil er Massenvernichtungswaffen hatte, sondern weil er keine hatte. Oder andere Staaten, welche mit einer „humanitären Aktion“ beglückt wurden, oder welchen Euphemismus man gerade bemüht hat, wenn die Vereinigten Staaten ihre geostrategischen Interessen durchsetze wollten.
Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben, dass wir Russland in den letzten drei Jahrzehnten doch etliche Demütigungen zugemutet haben. Und Russland eine schon bemerkenswerte Geduld an den Tag gelegt hat. Man stelle sich nur einmal vor, Deutschland hätte auf eigene Kosten Nord Stream 2 gebaut, und dann hätte Russland angefangen, Bedingungen zu stellen, damit man da überhaupt Gas liefere.
Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben, dass „der Westen“ nach den Maßstäben, die wir an Russland anlegen, selbst nicht gut da steht. Überhaupt nicht gut. Und was passiert eigentlich mit denjenigen, welche die Belege für die Kriegsverbrechen veröffentlichen? In diesem so freien Westen? Wie geht es Julian Assange? Was macht gerade Edward Snowden?
Und wie immer sind es nicht „wir“ im Westen, welche die Folgen zu spüren bekommen. Mal abgesehen davon, dass sich Energiepreise vorübergehend ein wenig auf den Wert zu bewegen, den sie aus ökologischen Gründen haben müssten.
Und ja, selbstverständlich, wir sind tief betroffen, gehen auf Demos, strahlen Gebäude blau-gelb an, wir sind ja so solidarisch. Wir sind ja die Guten. Und Putin ist der Böse. Klassischer Mt 7,3–5.
Drei Finger zeigen auf einen selbst.
Und deswegen lasse ich die Hand lieber unten.
[1] Update 21. Mai 2022
In der ursprünglichen Version des Textes habe ich das, was Putin über „Entnazifizierung“ sagte, als „bullshit“ bezeichnet. Diese Abqualifizierung kann ich mit jetzigem Kenntnisstand nicht länger aufrecht halten.
Es braucht an dieser Stelle nicht entschieden werden, ob zum Beispiel die Mitglieder des Regments Asow jetzt Nazis sind oder „lediglich“ eine bemerkenswert hohe Affinität zu Nazi-Symbolik pflegen. Es ist aber klar, dass die Ansicht, dass es sich um Nazis handelt, zumindest vertretbar ist.
Pardon, mir wäre es ja anders auch lieber.
Danke